Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


BOYHOOD

Buch und Regie: Richard Linklater

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Will man aus dem Überangebot angepriesener Filme auswählen, werden Genres als wichtige Entscheidungshilfe angesehen. Und zwar nicht nur für die Kinogänger, die ratlos an der Kasse stehen. Sondern auch für all jene, die als Verleiher, Kinobetreiber oder Rezensenten, Filme bewerten und beschreiben. Genres gelten als probates Mittel, Filminhalte mit bestimmten Zielgruppen zu verknüpfen: Horror-Komödien ziehen ein Teenagerpublikum an, Horror-Thriller locken Männer, Melodramen Frauen in die Kinos und romantischen Komödien wird eine nahezu unbegrenzte Breitenwirkung nachgesagt. Richard Linklaters Langzeitprojekt BOYHOOD hilft, den Automatismus zwischen Genre und Zielgruppe differenzierter zu betrachten.

In Verleihinformation und Filmkritik wird BOYHOOD als Coming-of-Age-Drama bezeichnet. Tatsächlich ist Linklaters ungewöhnliches Porträt einer Kindheit, für das er im Zeitraum von über einer Dekade jährlich dasselbe Schauspielerensemble versammelt und die Geschichte jeweils weitergesponnen hat, ein geradezu paradigmatischer Vertreter dieses Genres. Der Film verfolgt den Reifeprozess des anfangs sechsjährigen Jungen MASON (Ellar Coltrane) bis zu seinem Eintritt ins College und lässt dabei die typischen Stationen des Erwachsenwerdens vom ersten Schultag über das erste Bier bis hin zur ersten Liebe nicht aus. Erzählt werden jedoch auch die machtlos-tragischen Momente einer Kindheit, wie das Ausgeliefertsein an einen aggressiven und alkoholkranken Stiefvater oder an mobbende Mitschüler.

Viel mehr noch als das cineastische Porträt eines Heranwachsenden ist BOYHOOD jedoch eine filmische Reflexion über Zeit und Erinnerung. Zwischen den einzelnen Episoden und Wendepunkten in Masons Leben setzt der Film kühne Zeitsprünge und Leerstellen und simuliert so das ebenso erratische wie selektive menschliche Gedächtnis. Wie in Marcel Prousts ähnlich monumental angelegtem Romanepos Auf der Suche nach der verlorenen Zeit steht nicht der Reifeprozess eines jungen Mannes zu einer nachdenklichen Künstlerpersönlichkeit, sondern die von all diesen Entwicklungen ungerührt voranschreitende Zeit selbst im Vordergrund. Im alltäglichen Erleben verläuft eine Biographie diskontinuierlich und schlaglichtartig und erscheint erst in der Rück- oder künstlerischen Zusammenschau linear und teleologisch.

Folgerichtig spart der Film oftmals die typischen Etappenziele einer Biographie aus und legt den Fokus vielmehr auf die nachträgliche Reflexion vergangener Ereignisse; beispielsweise wenn nicht Masons traumatische Trennung von seiner ersten Liebe im Zentrum steht, sondern das anschließende Gespräch mit Vater MASON SR. (Ethan Hawke), das dem tragischen Verlust im nachhinein eine Bedeutung abtrotzt. Mit diesem zentralen Themenkomplex um fortschreitende Zeit, Erinnerung und rückblickende Reflexion öffnet sich der Film gerade für ein älteres Zielpublikum, das die nachträgliche Bewertung des Lebens aus dem Blickwinkel der Erinnerung nachvollziehen kann.

Anders als die Genrezuschreibung Coming-of-Age erwarten lässt, richtet sich Linklaters Kindheitsstudie damit, wie etliche andere Vertreter dieses Genres ─ beispielsweise Noah Baumbachs lakonische Kindheitsautobiographie DER TINTENFISCH UND DER WAL ─, an ein reifes Zielpublikum. Zielgruppenbestimmung kann sich demnach nicht ausschließlich auf Genres stützen. Sondern sollte vielmehr auch die spezifische Behandlung des Themas bzw. die der Geschichte zugrunde liegenden Sujets in Betracht ziehen.

Wie auch eine FFA-Studie zum Zusammenhang zwischen Filminhalten und Zielgruppen gezeigt hat, erwarten reifere Zuschauer, dass sich auch Filme, die jugendliche Protagonisten ins Zentrum stellen, mit Sujets wie Selbstreflexion und Ich-Bespiegelung auseinandersetzen. Auf die jüngere "Facebook-Generation" üben dagegen Filmgeschichten einen Reiz aus, in der ein jugendliches Gemeinschaftsgefühl und Gruppenerlebnis seinen Ausdruck findet. Entsprechend hat laut den FFA-Marktdaten Caroline Links kontemplatives Porträt einer Gehörlosen in JENSEITS DER STILLE trotz der jugendlichen Protagonistin ein erwachsenes Publikum angezogen. Wohingegen Hans-Christian Schmids Bestsellerverfilmung CRAZY über die Gruppendynamik von Internatsschülern vorrangig Jugendliche in die Kinos locken konnte.

Linklaters BOYHOOD visiert jedoch nicht nur die passende Altersgruppe an, um zu einem echten Arthouse-Klassiker zu werden. Zusätzlich bringt er mit der sich über zwölf Jahre hinziehenden, eigentümlichen Produktionsgeschichte auch noch ein aufsehenerregendes Alleinstellungsmerkmal mit, das dem Film bereits jetzt breite Beachtung in der Film- und Tagespresse beschert hat. Selbstverständlich gab es im Dokumentarfilmbereich mit der Langzeitstudie über eine brandenburgische Schulklasse DIE KINDER VON GOLZOW, dem britischen Äquivalent der UP-Series oder der fiktiven Autobiographie im ANTOINE-DOINEL-Zyklus von Altmeister François Truffaut schon einige durchaus vergleichbare Vorgängerprojekte. Auch ist mit dem kanadischen Episodendrama PERSPECTIVE derzeit ein ähnliches Langzeitprojekt in Produktion. Dennoch ist der Innovationsgehalt einer Langzeitfilmproduktion noch immer stark genug, um den Arthouse-Kinogänger einzuladen, sich wie ein Trophäenjäger einer seltenen Spezies zu fühlen.

Entsprechend kann der Film neben der bereits erfolgten Anerkennung von Festivaljuroren und Filmkritikern auch auf einen mehr als achtbaren Publikumserfolg hoffen. Zuschauerzahlen können an Linklaters erfolgreiche BEFORE-Trilogie anknüpfen, die mit ihrem sensiblen Porträt eines Paares vom ersten Kennenlernen bis zur Ehekrise eine ähnliche Langzeitstrategie verfolgt hat. Vergleichbar ist BOYHOODs erfrischend authentisch-lebensechter Erzählton auch mit anderen Slice-of-Life-Filmen von REALITY BITES bis SPANGLISH und wird sich, was die Besucherzahlen angeht, zwischen diesen beiden Polen bewegen.

Veröffentlicht am: 9. Juni 2014

Prognose: Referenzfilm: BEFORE SUNRISE: 307.000 Besucher (Quelle: iboe)

Ergebnis: Stand 26. November 2016: BOYHOOD: 315.000 Besucher (Quelle: iboe)