Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.

EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND FINSTERNIS  

Buch und Regie: Natalie Portman nach dem Roman von Amos Oz

Fakt und Fiktion im Autorenfilm

Zu Beginn bleibt die Leinwand schwarz. Erst als sich Mutter und Sohn gemeinsam eine Gute-Nacht-Geschichte ausdenken, kommt Licht ins Dunkel und erste Bilder sind zu sehen. Damit beschwört der Film von Anfang an die eskapistisch-schöpferische Macht von Geschichten und der eigenen Erinnerung. Natalie Portman legt mit ihrem Regiedebüt EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND FINSTERNIS ein sehr persönliches Projekt und zugleich einen "Autorenfilm" im besten Sinne vor. Nicht nur hat sie das Drehbuch geschrieben, Regie geführt und den Film produziert, sondern auch noch die Hauptrolle der schwermütigen Mutter FANIA übernommen. Allerdings ist der Begriff "Autorenfilm" keine ausschließlich produktionstechnische Größe. Vielmehr entwickeln Autorenfilmer ihren eigenen Stil und schreiben sich in einem selbstreflexiven Spiel um Fakt und Fiktion selbst in ihre Werke ein.

In EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND FINSTERNIS überblendet Natalie Portman ihre eigene jüdische Identitätssuche mit der Familiengeschichte des israelischen Nationalschriftstellers Amos Oz. Bereits der Titel, der das Geschehen als "Geschichte" ausweist, spielt, wie schon die gleichnamige, autobiographisch gefärbte Romanvorlage von Amos Oz, mit der brüchigen Schnittstelle zwischen Imagination und Realität. Portmans Adaption verschiebt die Grenze zwischen Fakt und Fiktion weiter, indem sie zu Beginn und Ende eine Mutter mit ihrem Sohn Aleph auftreten lässt. Denn Aleph ist nicht nur der erste Buchstabe im hebräischen Alphabet, sondern auch der Name von Portmans Sohn mit dem französischen Choreographen Millepied. Damit überlagert sich in EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND FINSTERNIS Portmans eigene Familiengeschichte mit den Lebenserinnerungen von Amos Oz, die in vieler Hinsicht als paradigmatisch für das Aufwachsen im jungen Staat Israel gelten können.

Im Film streift der alternde Schriftsteller AMOS (Amir Tessler) durch Jerusalem und erinnert sich an seine Kindheit zur Zeit der israelischen Staatsgründung. In witzig-selbstironischen Bildern erzählt er die Herkunftsgeschichte seiner Familie, osteuropäische Juden, die voller Hoffnung ins Gelobte Land auswandern. Doch besonders Amos' sensibel-melancholische Mutter Fania kann den Verlust der geliebten Heimat nie überwinden. Angesichts der kruden Realität, die von Armut, Kriegswirren und einer fortschreitenden Entfremdung von ihrem Mann ARIEH (Gilad Kahana) geprägt ist, flüchtet sich Fania zusehends in die Welt ihrer Kindheitserinnerungen, Tagträume und der Literatur. Die Ununterscheidbarkeit zwischen Fakt und Fiktion führt die schwermütige Fania in  Dunkelheit und Depression. Der von Fanias Realitätsverlust überforderte Arieh beginnt eine Affäre mit einer anderen Frau. Nach Fanias tragischem Selbstmord zieht Amos in ein Kibbuz aufs Land. Die Geschichte überblendet die individuellen Familienerinnerungen des Autors mit der kollektiven Geschichte der israelischen Staatsgründung und tritt für Friede und Toleranz zwischen Israelis und Palästinensern ein ─ allerdings nicht ohne für Verständnis für das zionistische Anliegen zu werben. Dabei weicht der anfänglich selbstironisch-witzige Erzählton im Verlauf der Geschichte einer nachdenklich-resignativen Stimmung.

Die Handlungsstruktur ist weniger als engmaschige Dramaturgie denn als impressionistischer Szenenreigen angelegt, in dem Amos' und Fanias Kindheitserinnerungen lose miteinander verknüpft sind. In den raschen Zeit- und Perspektivwechseln droht der Zuschauer jedoch die Orientierung zu verlieren. Während in Oz' Romanvorlage der Erzähler für die nötige Klarheit zwischen den Zeit- und Perspektivebenen sorgt, wirkt Amos' Voice-Over-Stimme in Portmans Adaption weniger ordnend denn als zusätzliche Ebene, die das Geschehen mal ironisch-augenzwinkernd, mal melancholisch kommentiert. Die zahlreichen Vorausblenden ergeben zwar einige gelungene Bild- und Motivkontraste, unterlaufen jedoch den Aufbau eines dramaturgischen Spannungsbogens. Während die Verkörperung einer zerbrechlichen Frauenfigur Portman geradezu auf den Leib geschrieben ist, mag ihre fehlende Erfahrung als Drehbuchautorin für die dramaturgischen Schwächen der Adaption verantwortlich sein.

Die Figuren können sich indes der Sympathie der Zuschauer gewiss sein: Sei es die sensibel-melancholische Mutter Fania, die sich durch Flucht in Geschichten, Erinnerungen und Tagträume ein besseres Leben jenseits der Härte der israelischen Gründerzeit und ihrer unerfüllten Ehe imaginiert; der naiv-enthusiastische Arieh, der nicht wahrhaben will, dass weder seine schriftstellerischen Ambitionen noch der Staat Israel einen ungebremsten Siegeszug antreten werden oder der kleine Amos, der den Schikanen seiner Mitschüler dadurch entgeht, dass er ihnen, wie Scheherazade aus 1001 Nacht, spannende Fortsetzungsgeschichten erzählt, alle Figuren sind liebevoll und facettenreich gezeichnet.

Auch durch die Dialogebene werden die Figuren als distinkte Persönlichkeiten charakterisiert. Der geschwätzige Gelehrtenton von Arieh, der stets den hebräischen Ursprung aller Begriffe erläutern muss, verweist auf seinen sehnlichen Wunsch als Akademiker anerkannt zu werden. Die sentenzenhaften Ratschläge, die Fania ihrem kleinen Sohn mit auf den Weg gibt, lassen bereits ihr kluges und verletzliches Wesen erahnen, das an der tristen Wirklichkeit letztlich zugrunde gehen wird. Der kleine Amos baut sich sein Weltbild schließlich aus den vielen Stimmen um ihn herum zusammen, etwa den politischen Reden der Staatsmänner, den Geschichten seiner Mutter oder dem sorglos-naiven Optimismus seines Vaters.

Ebenso märchenhaft wie der Erzählton sind auch die Bilder des Films, die in ihrer überbordenden Visualität an die Filme der iranischen Comiczeichnerin Marjane Satrapi erinnern. Ähnlich wie in Satrapis explosivem Bilderreigen PERSEPOLIS lebt hier eine von Flucht und Verfolgung geprägte Familiengeschichte wieder auf, die aus der grotesk verzerrten Sicht eines Kindes rekapituliert wird. Das deutlich nüchternere Menschenbild und die problematische Beziehung zwischen den Eltern, die bis zum Selbstmord führt, verbindet EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND FINSTERNIS dagegen auch mit Satrapis Erinnerungsmärchen HUHN MIT PFLAUMEN.

Die Marktchancen von EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND FINSTERNIS liegen zwischen diesen beiden Vorläufern. Neben genauer Konzentration verlangt die teils desorientierende Szenenfolge zusätzlich eine intime Kenntnis jüdischer Kultur und Geschichte, um die gezeigten Geschehnisse verstehen und einordnen zu können. Damit adressiert der hermetische Szenenreigen ausschließlich das klassische Arthousepublikum. Positiv ins Gewicht fällt, dass die Mutter-Sohn-Beziehung berührend erzählt ist und in der visuellen Konzeption eindringliche Bilder vorführt. Auch die Prominenz von Natalie Portman, die hier erstmals als Autorenfilmerin und Hauptdarstellerin zugleich auftritt, wird sich günstig auf die Vermarktung des Films auswirken.

Veröffentlicht am: 4. November 2016

Prognose: < 50.000 Besucher

Ergebnis: 25.000 Besucher (Stand: 27. Februar 2017; Quelle: iboe)