Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


NO TURNING BACK - LOCKE

Buch und Regie: Steven Knight

Das Enge und das Weite - Die Erzähllogik des Kammerspielfilms

Jede filmische Entwicklung provoziert eine Gegenbewegung. Seitdem groß angelegte 3D-Blockbuster dem Kino buchstäblich eine neue Dimension abtrotzen, setzen viele Filmemacher bewusst auf den Reiz der Reduktion: Festival-Hits wie NEBRASKA oder OH BOY kommen ohne Farbbilder aus und der Oscar-Abräumer THE ARTIST verzichtet weitgehend auf den gesprochenen Dialog. Auch der Kammerspielfilm erlebt derzeit eine mächtige Renaissance. Und damit ein Genre, das sich per Definition durch Beschränkung auszeichnet: Beschränkung auf ein kleines Schauspielerensemble, einen überschaubaren Handlungsraum und einen kurzen Zeitabschnitt. Dieser Tradition folgend machten zuletzt das Hochsee-Drama ALL IS LOST bzw. der Weltraum-Thriller GRAVITY von sich reden. Mit NO TURNING BACK läuft nun ein Kammerspielfilm in den Kinos, der diese Vorläufer sogar noch an reduktiver Radikalität übertrifft. Und genau deswegen ganz hervorragend funktioniert.

Kammerspiele gelten als unfilmisch. Das Bewegtbild-Medium Film drängt danach, durch rasante Kamerafahrten und Schnitte immer neue Bildräume zu entdecken. Frühe Monumentalfilme wie INTOLERANCE feiern geradezu den energischen Durchmarsch durch Raum und Zeit. Die absichtliche Reduktion auf einen beengten Handlungsrahmen scheint kontraproduktiv ─ und im Zeitalter hypermobiler 3D-Blockbuster auch als mögliches Kassengift. Entsprechend spielen die jüngst erschienenen Kammerspielfilme, das Hochsee-Drama ALL IS LOST bzw. der Weltraum-Thriller GRAVITY, jeweils in einem weitläufigen Setting, das es dem Kamerablick immer wieder erlaubt, aus der klaustrophobischen Enge des Erzählrahmens auszubrechen. NO TURNING BACK folgt einer viel radikaleren Idee: Während der gesamten Filmlänge verlässt weder der Protagonist noch der Zuschauerblick den beengten Innenraum eines fahrenden Autos.

Allerdings baut NO TURNING BACK gerade durch den klaustrophobischen Handlungsraum eine kaum auszuhaltende Spannung auf. Diese Strategie erinnert an Hitchcockeske Vorläufer wie den Film-Noir-Klassiker SORRY WRONG NUMBER, das Kriegsdrama BURIED - LEBENDIG BEGRABEN oder die Heckenschützen-Thriller GRAND PIANO und NICHT AUFLEGEN. Allerdings nimmt hier die schlichte Kammerspieldramaturgie jeweils durch eine tödliche Bedrohung Fahrt auf. Und in Vergleichsfilmen, die ebenfalls beinahe ausschließlich im Inneren eines Autos spielen, wie TEN, NIGHT ON EARTH oder BALDUIN DER SONNTAGSFAHRER, sorgen wenigstens wechselnde Mitfahrer für Abwechslung. NO TURNING BACK verzichtet dagegen auf alle externen Spannungstreiber und lässt seinen Protagonisten nicht ex-, sondern implodieren. Der Film verlegt den Konflikt ins Innere seiner Hauptfigur und überlässt ihn damit auf meisterliche Art der Imagination der Zuschauer.

Mit dieser maximalen Reduktion ─ ein Mann, eine Nacht, ein Auto ─ braucht NO TURNING BACK einen starken inneren Konflikt, um sich dauerhaft die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu sichern. Doch in dieser Hinsicht fährt der Film einiges auf: Nicht nur der Arbeitsplatz, sondern auch die Ehe des erfolgreichen Bauleiters IVAN LOCKE (Tom Hardy) steht auf dem Spiel ─ sollte er sich dafür entscheiden, einer Frau, mit der er nur einmal eine Nacht verbracht hat, bei der Geburt des gemeinsamen Kindes beizustehen. Um diesen existentiellen Konflikt zu entfalten und kontinuierlich zuzuspitzen, evoziert der Film über die Telefonfreisprechanlage letztlich doch äußere Kontexte. Unablässig telefoniert Bauleiter Locke abwechselnd mit seiner Ehefrau, seinen beiden Söhnen, seinem One-Night-Stand, deren Ärzten sowie seinen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Klingelt das Telefon einmal nicht, hält er imaginär Zwiesprache mit seinem verstorbenen Vater, dem er vorwirft, ihn als Kind im Stich gelassen zu haben. In diesen Gesprächen offenbart Locke sowohl einen starken ideellen Bezug zu seiner Arbeit als auch eine enge emotionale Bindung zu seiner Familie. Hierdurch und auch durch Lockes traumatische "Backstorywound" ─ er ist von seinem eigenen Vater verlassen worden ─ wird es dem Publikum leicht gemacht, Mitleid für sein Dilemma zu empfinden. Und auch mit Lockes verzweifelten Lösungsversuchen mitzufiebern.

Damit knüpft NO TURNING BACK an die frühe Tradition des Kammerspielfilms an, den Siegfried Kracauer in seiner Konzentration auf innere Konflikte als "Triebfilm" bezeichnet hat. Wie Helga Lazar in einer denkwürdigen Arbeit gezeigt hat, funktioniert der Kammerspielfilm oftmals als (Zerr-)Spiegel bürgerlicher Moralvorstellungen. Diese wurden in vergleichbarer Weise zuletzt in Polańskis Kammerspielfilm VENUS IM PELZ infrage gestellt. Auch hier dringt die Außenwelt ─ in Form einer nicht ganz grundlos eifersüchtigen Ehefrau ─ ebenfalls durch ein unablässig klingelndes Telefon in die ansonsten hermetische abgeriegelte Erzählwelt. Auch in einer anderen kürzlich gestarteten Produktion kommt einer Telefonstimme ein nicht unbeträchtliches dramaturgisches Konfliktpotenzial zu. In Spike Jonzes Schöne-Neue-Welt-Parabel HER verliebt sich ein melancholisch-verträumter Einzelgänger in die smarte Sprechstimme seines Betriebssystems. Jedoch wird hier gerade versäumt, die Hauptfigur einem vergleichbar existenziellen Dilemma auszusetzen, an dem die Zuschauer emotional Anteil nehmen könnten.

Dagegen stattet NO TURNING BACK seine Hauptfigur sowohl mit einem engmaschigen Beziehungsgeflecht als auch mit einem schier ausweglosen Grundkonflikt aus. In der Konsequenz, in der sich die Dramaturgie fast vollständig auf das minutiöse Minenspiel seines herausragend schauspielernden Hauptdarstellers verlässt, erinnert der Film auch an die packenden Rededuelle in FROST/NIXON. Insofern ist ein achtbarer, fünfstelliger Arthouseerfolg durchaus möglich, insbesondere dann, wenn der Film durch eine lange Laufzeit die Möglichkeit erhält, das volle Potenzial seiner Mundpropaganda auszuschöpfen, die etwaigen Vorbehalten gegenüber der minimalistischen Grundidee den Wind aus den Segeln nehmen wird.

Veröffentlicht am: 21. Juni 2014

Prognose: achtbarer, fünfstelliger Arthouseerfolg

Ergebnis: Stand 26. November 2016: 34.000 Besucher (Quelle: iboe)