Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


WILLKOMMEN BEI HABIB

Buch: Sabine Westermaier/Michael Baumann; Regie: Michael Baumann

Rhapsodie und Episode

"Unter den einfachen Fabeln und Handlungen sind die episodischen die schlechtesten" schreibt Aristoteles im 9. Kapitel seiner Poetik. Nichtsdestotrotz erfreuen sich Mosaik-, Ensemble- und Episodenfilme, insbesondere bei jungen Filmemachern, anhaltender Beliebtheit. Was den Reiz, aber auch die Problematik episodischer Filmstrukturen ausmacht, lässt sich an Michael Baumanns deutsch-türkischer Tragikomödie WILLKOMMEN BEI HABIB beobachten.

Habibs Imbissbude auf dem Stuttgarter Wilhelmspatz wird zum Treffpunkt für vier unterschiedliche Männer, die die Auseinandersetzung mit einer Lebenslüge verbindet. Dönerbudenbesitzer HABIB (Vedat Erincin) hat die deutsche Callshop-Besitzerin ANDREA (Teresa Harder) geheiratet und gefällt sich auch sonst in seiner Rolle als Musterbeispiel für gelungene Integration. Über Frauen mit Kopftuch macht er sich lustig und in seinem Imbiss bietet er neben Döner ganz selbstverständlich auch schwäbische Maultaschen an. Doch als Habib auf einer Hochzeitsfeier seine Jugendliebe CIGDEM (Sema Meray) wiedersieht, beginnt er sich zögerlich wieder mit seiner türkischen Heimat auseinanderzusetzen. Für Habibs Sohn NECO (Burak Yigit) ist die Türkei dagegen seit jeher ein verklärter Sehnsuchtsort. Als dem jungen Vater Neco finanzielle Sorgen und Zukunftsängste über den Kopf wachsen, werden seine türkischen Wurzeln endgültig zum Fluchtpunkt. Gemeinsam mit seiner Geliebten JONA (Luise Heyer) plant Neco, in die Türkei durchzubrennen und seine Ehefrau SEMRA (Maryam Zaree) und seinen kleinen Sohn CEM (Ilyes Moutaoukkilin) in Deutschland zurückzulassen. Außerdem stranden der demenzkranke INGO (Klaus Manchen) und der impulsive Geschäftsmann BRUNO (Thorsten Merten) in Habibs Imbiss. Ingo ist aus dem Pflegeheim ausgebüxt, um nach Jahrzehnten wieder Kontakt zu seiner Tochter zu suchen, zu der er nach der Trennung von seiner Frau keinen rechten Draht mehr aufbauen konnte. Bruno wurde dagegen ausgerechnet von seinem langjährigen Freund und Partner DEREK (Godehard Giese) zu Unrecht verdächtigt, Firmengelder veruntreut zu haben und äußerst unehrenhaft entlassen. Kurzerhand tritt er auf einer Verkehrsinsel zwischen Habibs Imbiss und seiner alten Firma in den Sitzstreik, um für seine Ehre und seinen Job zu kämpfen. Allerdings muss er dort einsehen, dass ihm vor lauter Arbeit das Privatleben abhanden gekommen ist und er seit Jahren keine tieferen Kontakte zu anderen Menschen hat. Neben der Auseinandersetzung mit Lebenslügen dient damit die Einsicht der vier Männer in die Schwierigkeit, echte zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, als motivische Klammer zwischen den einzelnen Episoden. Habibs Imbissbude, aber insbesondere auch Andreas Callshop stehen für das Bedürfnis, aber zugleich auch für die Unmöglichkeit aufrichtig miteinander kommunizieren zu können. Damit ist ein zwischenmenschlich berührendes, universell vermittelbares Grundsujet gewählt, das der Film ja auch multikulturell auffächert.

Anhand dieses starken Grundsujets wird deutlich, was den anhaltenden Reiz episodischer Geschichten ausmacht: Die Möglichkeit dasselbe Motiv mit verschiedenen Figuren durchzudeklinieren, so dass sich ein Kaleidoskop unterschiedlicher Perspektiven ergibt, mit ein und demselben Problem umzugehen. Meisterhaft versteht es beispielsweise der mexikanische Arthouse-Star Alejandro González Iñárritu in seinem gefeierten Spielfilmdebüt AMORES PERROS drei verschiedene Erzählstränge unter dem gemeinsamen Blickwinkel des Loyalitätskonflikts zu betrachten. Und einem seiner Nachfolgeprojekte, dem Episoden-Drama BABEL, dient der prekäre Versuch gelungener zwischenmenschlicher Kommunikation als motivische Klammer. Allerdings wird hier akribisch auf die dramaturgische Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Episoden geachtet. Mit Ausgewogenheit ist eine Art erzählerische Gleichberechtigung gemeint, die jeder Episode nicht nur etwa gleich viel Filmzeit einräumt, sondern auch die einzelnen Handlungsstränge jeweils dramaturgisch gleich stark akzentuiert. Die Zuschauer sollten über alle Protagonisten etwa gleich viel erfahren, um sich in alle Handlungsstränge gleichermaßen einfühlen zu können.

Genau diese dramaturgische Ausgewogenheit geht WILLKOMMEN BEI HABIB indes ab. Während der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Habib und Neco sensibel und facettenreich entfaltet wird, wird Brunos, aber insbesondere auch Ingos Geschichte jeweils zu knapp angerissen, als dass die Zuschauer hier wirklich Anteil nehmen könnten. Auch für einige interessant angelegte Nebenfiguren hätte man sich mehr Erzählzeit gewünscht, wie für die afrikanische Prostituierte ABLA (Dela Gakpo) oder für die beiden Frauen in Necos Leben, seine türkischstämmige Ehefrau Semra bzw. seine deutsche Geliebte Jona. Der ursprüngliche, auch noch während der Credits eingeblendete Titel des Films lautet HABIB RHAPSODY. Damit wird auf das dem Episodenfilm verwandte Verfahren in der Musik angespielt. Rhapsodie bezeichnet in der Musiktradition ein Stück, das keiner starren Form folgt, sondern Motive frei variiert. In der Rhapsodie wie auch im Episodenfilm ist jedoch gleichwohl (und in gewisser Hinsicht umso mehr) die ausgewogene Gesamtkomposition von Bedeutung.

Kompositionell gelungen sind indes die eindringlichen Stuttgarter Stadtansichten, die ein ungewöhnliches und klischeefreies Großstadtporträt zeichnen. In dem prägnanten Schlussbild, in dem sich Großvater, Sohn und Enkel gemeinsam einen Sonnenaufgang ansehen, geht die Strategie des Films auf, die leisen Zwischentöne zu fokussieren. Im Gegensatz zu knalligen Multi-Kulti-Komödien wie ALMANYA - WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND oder MARIA, IHM SCHMECKT'S NICHT wird der Film damit jedoch nur ein sehr begrenztes Publikum erreichen, obwohl man ihm durchaus mehr Zuschauer wünschen würde. Auch im Vergleich zu anderen, eher kontemplativ angelegten Migrationsgeschichten, wie dem herrlich melancholischen COUSCOUS MIT FISCH, werden sich die Besucherzahlen im deutlich niedrigeren, vierstelligen Bereich bewegen.

Veröffenlicht am: 9. Juni 2014

Prognose: Besucherzahlen im vierstelligen Bereich

Ergebnis: Stand 9. Oktober 2014: 7.000 Besucher (Quelle: EDI)