Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.

 

CALL ME BY YOUR NAME

Buch: James Ivory nach dem Roman von André Aciman; Regie: Luca Guadagnino

Das symbolische Objekt im Liebesfilm

Luca Guadagninos Queer-Liebesdrama CALL ME BY YOUR NAME ist eine filmische Reflexion über Zeit. Und das bedeutsamste Objekt darin ist bezeichnenderweise eine Uhr. Denn, worauf der französische Filmtheoretiker Michel Chion in seinem grandiosen Buch Techniken des Drehbuchschreibens hingewiesen hat, nehmen filmische Requisiten, neben ihrer offensichtlich praktischen Funktion, vielfach auch eine die Handlung erläuternde, symbolisch aufgeladene Rolle ein.

Eine idyllische, italienische Kleinstadt zu Beginn der 1980er Jahre: Die italienisch-amerikanische Familie Perelman, bestehend aus dem Archäologie-PROFESSOR PERELMAN (Michael Stuhlbarg), seiner geistreich-gebildeten Frau ANNELLA (Amira Casar) und deren 17-jährigen Sohn ELIO (Timothée Chalamet), verbringt den Sommer in ihrer mondänen, alten Villa am Meer. Elio vertreibt sich die Zeit, indem er Literaturklassiker liest, an seinen Haydn-Improvisationen arbeitet und sich auf eine unbedeutende Liebelei mit dem Dorfmädchen MARZIA (Esther Garrel) einlässt.

Eine willkommene Abwechslung verspricht der amerikanische Doktorand OLIVER (Armie Hammer), den sich der Professor zum wissenschaftlichen Austausch über den Sommer ins Haus eingeladen hat. Doch als der Neuankömmling eintrifft, ist der sensible Elio zugleich fasziniert und eingeschüchtert von Olivers locker-amerikanischen Art, die so gar nicht zum Klischee des drögen Geisteswissenschaftlers passen will. Auch Elios Eltern haben sich ihren Gast, der weniger an einem hochgeistigen Gespräch als vielmehr an der aufgetischten italienischen Pasta interessiert ist, anders vorgestellt.

Als Elio Oliver sein idyllisches Zuhause zeigen will, scheint dieser wenig begeistert. Vielmehr möchte Oliver die nahe Kleinstadt erkunden, um seinen eigentlichen Interessen nachgehen zu können: Karten spielen, trinken und die Dorfschönheiten um den Finger wickeln. Damit erweist sich Oliver als das genaue Gegenteil des schweigsamen Elio, der am liebsten allein im Garten sitzt.

Doch ausgerechnet der lebenslustig-leichtfüßige Oliver beschäftigt Elio mehr als ihm lieb ist: Ständig hält er nach ihm Ausschau und analysiert jede noch so kleine Geste so lange, bis Elio glaubt, ihre Bedeutung entziffert zu haben. Auch Oliver zeigt sich von der Belesenheit, den klugen Kommentaren und dem talentierten Klavierspiel Elios beeindruckt. Die beiden beginnen eine heimliche, aber umso leidenschaftlichere Affäre, die von Olivers Abreise am Ende des Sommers jäh abgebrochen wird.

In einer früheren, noch von einem anderen Autor verfassten Version des Drehbuchs spricht Elio als Erzähler aus dem Off und gibt so seine Gedanken preis. Während hier Elios Erzählstimme dessen komplexe Gefühlswelt plakativ und plump ausplaudert, verzichtet die Neufassung von James Ivory auf die Voice-Over-Stimme und transportiert das Innenleben der Charaktere deutlich subtiler über Bildmetaphern und symbolische Requisiten.

Beispielsweise verdeutlicht Elios Digitaluhr, die er beim Liebesspiel mit Marzia neben sein Bett legt, das für das Mädchen missliche Dreiecksverhältnis zwischen Elio, Marzia und Oliver. Dass Elio während des Liebesakts mit Marzia immer wieder diskret auf die Uhr linst, zeigt, dass Elio mit dem Mädchen nur die endlose Zeit bis Mitternacht vertreibt, bis er das eigentliche Objekt seiner Begierde trifft: Oliver.

Die Halskette mit dem Davidstern, die im Verlauf der Geschichte von Oliver zu Elio wandert, steht dagegen nicht nur dafür, dass sich Elio, von Oliver angeregt, mit seiner jüdischen Identität auseinandersetzt. Sondern insbesondere auch für die identitäre Annäherung und ununterscheidbare Verschmelzung der beiden Liebenden, die in der titelgebenden wechselseitigen Namensanrede gipfelt.

Auch die antiken Bronzestatuen, mit denen sich Professor Perelman und Oliver im Rahmen ihrer archäologischen Studien beschäftigen, dienen als Sinnbilder für das (noch) verborgene Innenleben der Figuren. Beispielsweise erörtert der Professor seinem Doktoranden, der schon bald Gefühle für den jungen Elio entwickeln wird, in einer Art Vorwegnahme dieser erotischen Spannung angesichts der kühlen, glatten Männerkörper der antiken Bronzestatuen: "Sie sind durch ihre zeitlose Ambiguität so ungehemmt, als würden sie uns herausfordern, sie zu begehren."

Später steht das deutlich zu große Hemd, das Oliver Elio schenkt, symbolisch dafür, dass sich Elio seinen neu entdeckten Gefühlen noch nicht gewachsen fühlt ─ wenn auch sein Vater ihm, in einer der berührendsten Reden der Filmgeschichte, rät, auch zu schmerzhaften Gefühlen zu stehen anstatt seine Leidenschaften zu verleugnen.

Gerade diese subtile Erzählweise mittels symbolischer Requisiten und Bildmetaphern, aber auch der anrührende Umgang mit allgemein menschlichen Themen wie die nostalgische Erinnerung an die erste Sommerliebe, in die jeder seine eigenen Erfahrungen hineinlesen kann, öffnen den kontemplativ erzählten Film für ein breiteres Publikum. Und erlaubt zudem ein ebenso offen-natürliches wie anspielungsreich-differenziertes Schauspiel, so dass bei der anstehenden Oscar-Verleihung sowohl der Preis für Timothée Chalamet als bester Hauptdarsteller als auch für James Ivorys herausragende Drehbuchadaption zu erwarten sind.

Veröffentlicht am: 2. März 2018

Prognose: +/- 200.000 Besucher und Oscar für den besten Hauptdarsteller und das beste adaptierte Drehbuch

Ergebnis: 175.000 Besucher (Quelle: iboe; Stand: 28. Januar 2019) und Oscar für das beste adaptierte Drehbuch 2018