Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.

SUFFRAGETTE

Buch: Abi Morgan; Regie: Sarah Gavron

Das Persönliche vs. das Politische im Aktivistenfilm

"Die Wanderin schreitet weiter auf dem Weg, der zur Freiheit führt. Sie fragt sich: 'Ich bin allein, vollkommen allein. Warum strebe ich diesem fernen Land entgegen?' Und Vernunft sagt ihr: 'Still, was hörst du? Tausende, und sie kommen näher... die Füße derer, die dir folgen. Führe sie." (Olive Schreiner, "Dreams", 1890)

Die Schlussworte von Sarah Gavrons Film SUFFRAGETTE über die historische Frauenwahlrechtsbewegung hätten auch als eine Art Motto an seinen Anfang gestellt werden können. Enthalten sie doch im Kern das Faszinierende und vor allem auch das Inspirierende, das vom Aktivistenfilm ausgeht: Das Genre reflektiert in einzigartiger Weise das Verhältnis des Einzelnen zu der Gemeinschaft, in der er lebt. Und damit ein Thema, das per se ein hohes emotionales Identifikationspotenzial birgt.

Die filmische Umsetzung steht dabei aber vor der Herausforderung, die allgemeinen Zeitumstände in einem individuellen Lebensweg widerzuspiegeln ─ ohne in unspezifische Klischees zu verfallen. Die gängigste Lösung für dieses Dilemma ist die jeweilige Führungspersönlichkeit einer politischen Gruppierung in einem Biopic zu porträtieren, wie es beispielsweise die großartigen Aktivistenfilme MILK für die Schwulenrechtsbewegung bzw. SELMA für die Bürgerrechtsbewegung vorgeführt haben.

In einem frühen Stoffentwicklungsstadium wurde für SUFFRAGETTE ein vergleichbares Vorgehen anvisiert. Denn wie Regisseurin Sarah Gavron in einem Indiewire-Interview ausführt, hatte sie ursprünglich geplant, ein Biopic über die Leitfigur der Frauenwahlrechtsbewegung Emmeline Pankhurst zu drehen. Während der Recherchearbeit habe sich der Fokus allerdings zugunsten der einfachen Arbeiterinnen verschoben, die sich aufgrund ihrer vielfach benachteiligten Stellung den Suffragetten angeschlossen haben.

Die Lebensgeschichte der Hauptfigur, MAUD WATTS (Carey Mulligan), ist demnach ein Kompendium aus vielen historisch verbürgten Einzelschicksalen von Frauen, die sich trotz massiver persönlicher Opfer aus ihrer Fremdbestimmung befreiten. Allerdings verdichtet sich dieses Destillat aus zahlreichen individuellen Lebensgeschichten, denen die Protagonistin zugrunde liegt, eben gerade nicht zu einer psychologisch nachvollziehbaren und emotional berührenden Filmfigur.

Vielmehr erscheinen die Stationen von Mauds tragischem Schicksal als steril-stereotype, allgemeingültige Folie bzw. auch als ungelenke Rechtfertigung für ihren politischen Aktivismus, hinter der alles Vielschichtige, Persönliche und Individuelle zurücktritt. Elternlose Kindheit, harte Arbeit gegen geringen Lohn, sexueller Missbrauch, Ehe-Scheidung und Verlust des einziges Sohnes folgen als atemloser Tristesse-Reigen aufeinander und lösen die nicht minder erwartbare Abfolge einer sukzessiven politischen Extremisierung aus. Mauds schüchtern vorgetragenes Statement zugunsten des Frauenwahlrechts vor dem britischen Parlament zieht eine Demonstration, einen Hungerstreik, einen Bombenanschlag und schließlich den Märtyrertod einer ihrer Mitstreiterinnen nach sich. Entsprechend spielt die engagierte Carey Mulligan letztlich auf verlorenem Posten gegen eine etwas plump collagierte und arrangierte Figurenfolie an.

Bei der Figurenzeichnung der Nebencharaktere wurde indes mehr darauf geachtet, nicht in dumpfe Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen. Beispielsweise ist Mauds Ehemann SONNY (Ben Whishaw) weniger ein fieser Tyrann als ein einfach gestrickter Traditionalist, dem es nicht gelingt, aus gewohnten Denk- und Verhaltensmustern auszubrechen. Auch der ermittelnde Polizeibeamte STEED (Brendan Gleeson) ist kein stumpfsinniger Bluthund, sondern eine zwischen Gesetzestreue und Sympathie für die Sache der Frauen zerrissene Figur.

Auch das Schauspiel der weiblichen Darstellerinnen ist absolut sehenswert, obgleich sie deutlich holzschnittartigere Charaktere verkörpern. Neben Mulligan ist Meryl Streep in einer Cameo-Rolle als Emmeline Pankhurst oder die herausragende Helena Bonham Carter als eine der Frauenrechtlerinnen zu sehen. Zudem überzeugt das ebenso lebensecht-authentische wie detailverliebte historische Produktionsdesign sowie die abwechslungsreich-realistische Kameraarbeit, die zwischen eindringlichen Nahaufnahmen und fluider Mobilität hin- und herwechselt. Damit entkommt der Film dem Eindruck eines verstaubten Historienfilms und schlägt nicht nur in seiner Schlusseinblendung, die den Kampf um Frauen(wahl)rechte als einen noch immer andauernden anmahnt, die Brücke zum aktuellen Politikgeschehen.

Nichtsdestoweniger werden das frauenaffine Sujet und dessen ernsthafte, fast schwermütige Umsetzung ausschließlich ein weibliches Arthousepublikum anziehen. Obgleich der Film von den diesjährigen Oscar-Nominierungen übergangen wurde, wird ihm durch die Mitwirkung von Meryl Streep, die demnächst als Berlinale-Jury-Präsidentin im Zentrum der cineastischen Aufmerksamkeit stehen wird, zusätzliche Publicity zuteil werden. Entsprechend werden sich die Zuschauerzahlen oberhalb der 200.000-Marke bewegen.

Veröffentlicht am: 7. Februar 2016

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Ergebnis: 270.000 Besucher (Quelle: iboe) Stand: 26. November 2016