Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


LAND DER WUNDER

Buch und Regie: Alice Rohrwacher

Cinema felliniesque

Ein Kamel in der Toskana, eine etruskische Glücksfee im wehend weißen Gewand und ein junges Mädchen namens Gelsomina, das einer übermächtigen Vaterfigur ausgesetzt ist: Es fällt schwer angesichts Alice Rohrwachers LAND DER WUNDER nicht an die Filme von Federico Fellini zu denken. Doch was macht überhaupt die unverwechselbare Handschrift eines Filmemachers aus? Unter einem spezifischen Stil können die unterschiedlichsten Eigenschaften verstanden werden: Der spannungstreibende Suspense von Alfred Hitchcock, die geschwätzigen Monologe von Quentin Tarantino, die neurotischen Intellektuellen von Woody Allen, die surrealistischen Alptraumvisionen von David Lynch, die kühl komponierte mise-en-scène von Stanley Kubrick oder die Geräuschlandschaften von Francis Ford Coppola. Eine besondere Behandlung von Erzählperspektive, Dramaturgie, Schauspiel, Bild- bzw. Tonästhetik, Motiven, Sujets und Themen kann gleichermaßen die Wahrnehmung eines spezifischen Autorenstils prägen. Für die Filme von Federico Fellini hat der Filmwissenschaftler John C. Stubbs das Zusammenspiel von offener Form und visuellem Exzess als besonderes Stilmerkmal herausgearbeitet. Beide Kategorien lassen sich auch auf Alice Rohrwachers LAND DER WUNDER beziehen und helfen, schärfer zu konturieren, warum Rohrwachers Film die Erinnerung an Fellini wachruft.

LAND DER WUNDER porträtiert das karge Leben einer deutsch-italienischen Aussteigerfamilie in Mittelitalien. Im Zentrum der Erzählung steht die pubertierende GELSOMINA (Maria Alexandra Lungu). Statt ihre Jugend genießen zu können, muss sie auf dem ärmlichen Bauernhof ihrer Eltern als älteste von vier Töchtern hart anpacken. Zwei Begegnungen durchkreuzen Gelsominas drögen, arbeitsreichen Alltag. Zum einen wird der jugendliche Straftäter MARTIN (Luis Huilca Logroño) im Rahmen eines Rehabilitationsprogramms auf den Hof der Familie geschickt. Zum anderen trifft Gelsomina auf die Fernsehmoderatorin MILLY CATENA (Monica Belluci), ein hübsches Starlet, das für einen lokalen Landwirtschaftswettbewerb die Werbetrommel rührt: Wer von den Bauern in der Gegend die authentischsten Naturprodukte präsentiert, kann auf einen satten Geldgewinn hoffen. Gelsomina ist fasziniert von Milly, die etwas Glamour in die öde Provinz bringt. Außerdem hofft Gelsomina, mit dem Preisgewinn die Geldsorgen ihrer Familie lösen zu können. Gegen den Willen ihres autoritären und stets übel gelaunten VATERS (Sam Louwyck) meldet Gelsomina die Imkerei der Familie für den Wettbewerb an. Gemeinsam mit dem Kleinkriminellen Martin, zu dem sie sich hingezogen fühlt, probt Gelsomina heimlich eine berührende Aufführung, um den Preis zu gewinnen.

Mit dieser Handlungs- und Figurenkonstellation bringt LAND DER WUNDER eigentlich genug Konfliktpotenzial mit, um wahlweise eine komödiantische Provinzfarce oder ein sensibles Coming-of-age-Melodram zu erzählen. Doch anstatt die angerissenen Themen dramaturgisch voranzutreiben exploriert der Film vorrangig die bildliche und klangliche Umgebung. Taschenlampenlicht irrt durch das nächtliche, heruntergekommene Bauernhaus der Familie. Unbeweglich lauscht Gelsomina dem anschwellenden Summen des Bienenstocks. Ähnlich wie in den episodenhaften Filmen von Fellini wird hier statt eines stringenten dramaturgischen Handlungsaufbaus eine lose Reihung von Motiven geboten. Hier wie dort geht es nicht darum, einen engmaschigen Plot zu weben, der am Ende alle gesponnenen Erzählfäden wieder aufnimmt. Im Gegenteil wird Alltag mit seinen zufälligen Begegnungen und plötzlichen Momenten von Magie vorgeführt. Märchenhaft-überraschende Kontraste durchkreuzen das tägliche Einerlei, wie die feenhafte TV-Moderatorin, die plötzlich in der öden Provinzlandschaft auftaucht oder das Kamel, das unvermittelt auf der Wiese vor dem Bauernhaus liegt. Beide scheinen direkt aus Fellinis skurrilem Kuriositätenkabinett entsprungen und erinnern etwa an die elfenartige Verführerin in 8 1/2 oder das deplatzierte Pferd auf der überfüllten Stadtautobahn in ROMA.

Wie Fellinis Filme lebt Rohrwachers Erzähluniversum aus dem Zusammenspiel lose verknüpfter Motivparallelen mit bild- und tonästhetischen Exzessen. Und damit einer Rezeptur, die Kino als Schnittstelle zwischen Magie und Alltagswirklichkeit begreift. Trotz der verdienten Festivalerfolge werden die Besucherzahlen von LAND DER WUNDER allerdings, nicht zuletzt aufgrund des bewussten Verzichts auf eine stringent-engmaschige Handlungsdramaturgie, in einem vierstelligen, überschaubaren Rahmen bleiben.

Veröffentlicht am: 2. Oktober 2014

Prognose: Besucherzahlen im vierstelligen Bereich

Ergebnis: Stand 26. November 2016: 7.000 Besucher (Quelle: iboe)