Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


DIE VIERHÄNDIGE

Buch und Regie: Oliver Kienle

Akustische und visuelle Störfälle im Bewusstseinsfilm

In Charlie Kaufmans großartigem Film ADAPTION gibt es einen Dialog, in dem der Möchtegern-Drehbuchschreiber DONALD seinem Zwillingsbruder CHARLIE eine Idee für einen Thriller-Plot vorstellt:

DONALD
Okay, there's this serial killer, right. See, he's being hunted by a cop. And he's taunting the cop, right? Sending clues who his next victim is. He's already holding her hostage in his creepy basement. So the cop gets obsessed with figuring out her identity, and in the process he falls in love with her. Even though he's never even met her. She becomes, like, the unattainable, like the Holy Grail.

CHARLIE
It's a little obvious, don't you think?

DONALD
Okay, but there's a twist. See, we find out the killer suffers from multiple personality disorder. Okay? See, he's really also the cop and the girl. All of them are him! Isn't that fucked-up?

CHARLIE
The only idea more overused than serial killers, is multiple personality.

Tatsächlich ist multiple Persönlichkeit bzw. dissoziative Identität ein so oft aufgegriffenes Thema, das es schon fast zum filmischen Klischee verkommen ist. Dennoch gelingt Jung-Regisseur Oliver Kienle mit DIE VIERHÄNDIGE ein innovativer und spannender Zugang zu dem vielfach behandelten Sujet.

Zwei Schwestern müssen als Kinder die brutale Ermordung ihrer Eltern miterleben. Während es der blonden, fröhlichen SOPHIE (Friederike Becht) gelingt, die Vergangenheit zu verdrängen, verharrt die düstere, schwarzhaarige JESSICA (Frida Lovisa Hamann) im paranoiden Wahn. Jessica möchte Sophie vor jeder Gefahr  beschützen und weicht ihr nicht von der Seite. Sophie fühlt sich von Jessicas Verfolgungswahn zusehends eingeengt. Entsprechend empfindet Sophie Jessicas vermeintlichen Unfalltod ─ trotz aller Trauer ─ auch als Befreiung. Jedoch integriert Sophie nach Jessicas Tod deren Paranoia in ihre eigene Persönlichkeit. Fortan sieht sich Sophie zwischen ihrem eigenen lebenslustigen Naturell und Jessicas wahnhaftem Misstrauen hin und her geworfen.

Damit zeichnet der Film einerseits das sensible Porträt zweier gegensätzlicher Schwestern, die nach einem traumatischen Kindheitserlebnis in einer Art Hassliebe verbunden sind ─ bis sie nach dem Tod der einen zu einer ununterscheidbaren Synthese verschmelzen. Andererseits wartet der Film mit einem spannenden Thriller-Plot auf, im Zuge dessen Sophie sukzessive der eigenen Vergangenheit auf die Spur kommt, bis sich in einem final plot twist auf schockierende Weise ihre wahre Identität offenbart.

Die Grundkonstellation des Plots ähnelt Brian De Palmas Horrorklassiker SISTERS. Hier wie dort versucht eine weibliche Hauptfigur ein Kindheitstrauma zu überwinden, indem sie die Persönlichkeit ihrer verstorbenen Schwester annimmt. Damit verknüpfen beide Filme das populäre Genre des Bewusstseinsfilms mit einer "unzuverlässigen Erzählung", die erst am Ende in einem final plot twist die wahre Natur einer Figur und/oder Handlungskonstellation preisgibt (wie z.B. auch in THE SIXTH SENSE). Entsprechend zeichnet sich die Plotstruktur durch eine spannungssteigernde, restriktive Informationsvergabe aus, die die Zuschauer mit überraschenden Wendungen konfrontiert.

Aufgrund der Persönlichkeitsspaltung weist die Figurenkonzeption einige Besonderheiten auf. Die Wahrnehmung der lebensfrohen Sophie ist jeweils als visuell warmes Konzept umgesetzt. Ihre Welt suggeriert Harmonie und Hoffnung. Dagegen drücken die Bilder der düsteren Jessica Kälte, Gefahr, Angst, Aggression und Misstrauen aus. Auch die Tonspur vermittelt Hinweise auf die Spaltung der Hauptfigur: In Sophies Welt dominiert harmonische Klavier-Musik, bei Jessica tauchen neben aggressiver, elektronischer Musik auch unheimliche Lautsymbole ungeklärten Ursprung auf.

Als Erkennungsmerkmal der jeweiligen Figur bzw. Persönlichkeit dienen also akustische und visuelle "Störfälle". Damit sind Irritationsmomente gemeint, die die Zuschauer subtil darauf hinweisen, dass hier nicht filmische Realität, sondern die erratisch verzerrte Weltwahrnehmung einer schizoiden Persönlichkeit dargestellt wird. Beispielsweise wird Sophies Gesicht zusehends entstellt, bis ihre eine Gesichtshälfte kaum mehr erkennbar ist und so zur eindringlichen Bildmetapher ihrer gespaltenen Persönlichkeit wird. Dieselbe Funktion erfüllen die zahlreichen Szenen, in denen die Schwestern im Spiegelbild zu sehen sind.

Anders als die subtil-ausgewogene, überzeugend-durchdachte audiovisuelle (Figuren-)Konzeption ist die Dialoggestaltung weniger gelungen. Obgleich versucht wird, Sophie und Jessica auch dadurch voneinander abzugrenzen, dass sich beide in einer je eigenen Sprechweise ausdrücken, wirkt Jessicas aggressiver Jargon klischeehaft und stumpf. Besonders in den Gesprächen zwischen Sophie und ihrem Freund MARTIN (Christoph Letkowski) finden sich zudem langatmige, erklärende Dialoge, die die traumatische Backstory und den gesamten emotionalen Subtext der Geschichte plump ausplaudern, der zuvor anhand gelungener audiovisueller Metaphern deutlich subtiler ausgedrückt wurde.

Auch wird dem Zuschauer in der dramatischen Abfolge ausschließlich düsterer Szenen kaum jemals eine Atempause gegönnt. Hier hätte der Geschichte ein ausgewogener, alternierender Wechsel dramaturgischer Upbeats und Downbeats gut getan. Insgesamt liegt damit ein Film mit einem ambitionierten, handwerklich hervorragend inszenierten audiovisuellen Konzept und anspielungsreicher Metaphorik vor, der jedoch von plumpen Dialogen und einer düster-klischeehaften Story aus dem Gleichgewicht gebracht wird.

Entsprechend werden sich die Besucherzahlen im Kino lediglich im unteren, vierstelligen Bereich bewegen. Allerdings ist die Geschichte mit ihrer tendenziell jüngeren Zielgruppenausrichtung ein solider VOD-/DVD-Titel und birgt zudem vielversprechendes Remake-Potenzial.

Insofern lohnt es sich die Folgeprojekte von Nachwuchs-Autor/Regisseur Oliver Kienle weiter im Auge zu behalten, der bereits mit seinem Spielfilmdebüt BIS AUFS BLUT - BRÜDER AUF BEWÄHRUNG einen überzeugenden Achtungserfolg hingelegt hat. In vergleichbarer Weise erzählt dieser Film von einem Freundespaar, das sich als eine Art Doppelgängerfigur ineinander spiegelt, bis dem einen die Emanzipation aus der problematischen Symbiose gelingt. Beide Filme Kienles zeichnen sich durch ein überzeugend-ausgefeiltes audiovisuelles Konzept und eine sensibel gelungene Schauspielerführung aus.

Veröffentlicht am: 1. Dezember 2017

Prognose: Besucherzahlen im niedrigen, vierstelligen Bereich

Ergebnis: 2.000 Besucher (Quelle: iboe; Stand: 26. Februar 2018)