Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


DER JUNGE MUSS AN DIE FRISCHE LUFT

Buch: Ruth Toma; basierend auf der gleichnamigen Kindheitsautobiographie von Hape Kerkeling; Regie: Caroline Link

Das Komische im Tragischen und das Tragische im Komischen

Im Film gehen Tragik und Komik häufig eine sinnfällige Symbiose ein. Das liegt nicht nur daran, dass es sich hierbei um die beiden grundlegendsten Gemütszustände sozusagen die Grundrechenarten des menschlichen Gefühlshaushalts handelt. Sondern ist auch in der spezifischen Szenendramaturgie des Films begründet, in der sich im Idealfall komische "up-beats" mit tragischen "down-beats" alternierend abwechseln. In Caroline Links Kindheits-Biopic des populären Entertainers Hape Kerkeling verschmelzen tragische und komische Elemente zu einer so berührenden Synthese, dass eine Tragikomödie im besten Sinne daraus wird.

Das Ruhrgebiet in den späten 1960er Jahren: Der kleine HANS-PETER (Julius Weckauf) bringt am liebsten alle mit seinen Späßen zum Lachen. Im Krämerladen seiner exzentrischen Oma ÄNNE (Hedi Kriegeskotte) belauscht Hans-Peter das Getratsche der Kundinnen und äfft es originalgetreu nach. Auf seinem Pferd Bubi sitzt er gerne schon einmal verkehrt herum, um die Lacher auf seiner Seite zu haben. Und auf dem Karnevalsfest mit seiner feierwütigen Verwandtschaft geht der pummelige Hans-Peter ausgerechnet als in Tüll verpackte Prinzessin.

Doch Hans-Peters Scherze haben einen ernsten Hintergrund. Denn seine geliebte Mutter MAGRET (Luise Heyer) verliert nach einer Operation den Geschmacksinn und damit auch ihre Lebensfreude. Hans-Peter ist der einzige, der sie wenigstens ab und zu noch zum Lachen bringt und aus ihrer Lethargie zu reißen vermag. Mit seinen Scherzen kämpft der kleine Hans-Peter damit um nicht weniger als das Leben seiner depressiven Mutter: Aus Tragik erwächst Komik.

Als Hans-Peter diesen Kampf verliert und sich seine Mutter mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben nimmt, beschließt Hans-Peter jedoch umso mehr ein unverbesserlicher Optimist und humorvoller Entertainer zu werden. Er tröstet sich über den Verlust seiner Mutter, indem er mit einem Kochlöffel als Mikroattrappe Schlager zum besten gibt. Oder indem er die alte Jungfer MARGIT KOLOSSA (Diana Amft), die sich nach Margrets Tod aufdringlich an Hans-Peters Vater HEINZ (Sönke Möhring) heranmacht, aufs Korn nimmt und sich wie sie in ein enges, getigertes Oberteil quetscht. Bei einer Schulaufführung spielt Hans-Peter die kleine Nebenrolle eines kinderhassenden Nachbarn dann auch so überzeugend und witzig, dass er der Hauptfigur des Stücks die Show stiehlt. Von seinen beiden liebevoll-schrulligen Großmüttern mit wertvollen Lebensratschlägen ausgestattet kann Hans-Peter so seinen Kindheitstraum verwirklichen, auf der Bühne zu stehen und sein Publikum mit Witzen zu unterhalten.

Wie bereits die gleichnamige Bestseller-Kindheitsautobiographie des beliebten Entertainers Hape Kerkeling, auf der das Skript von Ruth Toma basiert, erzählt der Film mit viel Witz, regionalem Charme und Blick für skurrile Figuren vom Aufwachsen im Ruhrgebiet der 1960er Jahre. Vater Heinz geht als Tischler auf Montage, Mutter Margret ist mit der Hausarbeit überfordert, wenn auch die beiden resoluten Großmütter Änne und BERTHA (Ursula Werner) kräftig mitanpacken. Der kleine Hans-Peter liebt es, andere zum Lachen zu bringen und kultiviert von frühester Kindheit an seine Fähigkeit, Stimmen und Charaktere zu imitieren und schrullige Kunstfiguren zu erfinden. Denn schon als kleiner Junge weiß Hans-Peter, dass er einmal auf der Bühne stehen und ein Publikum mit witzigen Pointen unterhalten will.

Entsprechend verdichten sich die eher episodisch gereihten Kindheitserinnerungen in dem Motiv, welche Einflüsse, Vorbilder und Erfahrungen den später erfolgreichen Komiker Hape Kerkeling zu dem gemacht haben, der er ist. Dabei wird der tragische Freitod seiner geliebten Mutter zum neuralgischen Punkt in Hans-Peters Biographie, den er erst mit seiner Selbstfindungs- und Pilgerreise auf dem Jakobsweg überwinden kann.

In einer früheren Version des Drehbuchs wurden Hans-Peters Kindheitserlebnisse immer wieder von kurzen Szenen unterbrochen, die den erwachsenen Kerkeling auf seiner Jakobs-Wanderung zeigen, bei der der Entertainer imaginierte Weggefährten aus seiner Kindheit, wie seine Mutter oder seine beiden Großmütter, trifft, die seinen Lebensweg entscheidend geprägt haben. Von diesen Vorausblenden ist in der Drehfassung jedoch nur das Schlussbild übrig geblieben, in dem der erwachsene Kerkeling einen kurzen, liebevollen Blick auf sein Kindheits-Ich und seine bunte Großfamilie wirft und so endlich seinen Frieden mit seiner Vergangenheit und dem traumatischen Selbstmord seiner Mutter machen kann.

In der Drehfassung ist die Geschichte demnach weitgehend chronologisch und ungebrochen nur aus der Kinderperspektive erzählt. Abwechslung ergibt sich hier nicht aus verschiedenen Zeitebenen, sondern, ungleich eindringlicher, aus dem gekonnt orchestrierten Alternieren tragischer und komischer Szenen, die Drehbuch-Guru Robert McKee in seiner Skript-Bibel Story. Substance, Structure, Style and the Principles of Screenwriting als wechselnde Beats beschrieben hat.

Das Herzstück der Geschichte sind jedoch die verschrobenen Ruhrpott-Charaktere, denen der kleine Hans-Peter in Verwandt- und Nachbarschaft begegnet, die er detailverliebt beobachtet und deren spezifische Verhaltensweisen und Schrullen er sich genau einprägt. Sei es die verzweifelte, alte Jungfer Margit Kolossa, der schon der dritte Mann in einem Jahr davonläuft; der ewig mürrische Ladenbesitzer LOTHAR (Wolfgang Rüter), der immer über sein Rückenleiden jammert und Kinder nicht ausstehen kann; die wichtigtuerische Tante GERTRUD (Elena Uhlig), die überall ihre Meinung abgeben muss; die melancholische Tante ANNEMARIE (Eva Verena Müller), die bei jedem passenden und unpassenden Anlass Zarah-Leander-Lieder zum besten gibt; der feierwütige KURT (Nicholas Bodeux), der stets einen flotten Spruch auf den Lippen hat; die aufgetakelte VERONIKA (Katharina Hintzen), die jedem, der es sehen oder auch nicht sehen möchte, ihr üppig in Szene gesetztes Dekolleté unter die Nase hält; die eigenwillige Oma Änne, die am liebsten jovial grüßend in der Pferdekutsche durch den Ort braust; sie alle werden zum Vorbild und Anschauungsobjekt von Hans-Peters witzigen Nachahmungen.

Emotionales Zentrum des Films ist dabei die berührend erzählte Mutter-Sohn- bzw. Oma-Enkel-Bindung, die jedoch jeweils durch den Tod ein jähes Ende findet und lediglich in Hans-Peters Erinnerung und Imagination fortbesteht. Gemeinsamer Fluchtpunkt der sehr unterschiedlichen Charaktere ist demnach ihre Vorbildfunktion, die den kleinen Hans-Peter auf seinem Weg zum bekannten Komiker und Entertainer inspiriert hat.

Auch die Dialoge leben von regionalspezifischem Charme und Witz. Der trockene Humor der Ruhrpott-Arbeiter, ihr grammatikalisch verdrehter Dialekt und die rheinländische Fröhlichkeit und Ausgelassenheit beim Karneval oder bei Familienfeiern werden zur Inspirationsquelle für die Imitationen, Kunstfiguren und Späße des kleinen Hans-Peter.

Wenn hier die Charaktere und erzählten Episoden auch humoristisch überspitzt werden und im engeren Sinn als regionalspezifische Hommage an Kerkelings Heimat, das ländliche Ruhrgebiet, zu verstehen sind, kann Kerkelings Kindheit in der Idylle der bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderzeit in vielerlei Hinsicht als paradigmatisch gelten und wird demnach insbesondere bei denen auf Anklang stoßen, die diese Zeit noch selbst erlebt haben. Die Auswertungschancen dieser, trotz aller Tragik, leichtfüßig und humorvoll erzählten Kindheitsgeschichte schätze ich damit als sehr gut ein. Spätestens seit dem überwältigenden Erfolg von Kerkelings Pilgerreisenbuch sind Interesse an und Popularität des Komikers ungebrochen, so dass auch seine Kindheitsgeschichte, insbesondere in der Verfilmung durch Oscar-Preisträgerin Caroline Link, deren sensible Inszenierung an keiner Stelle ins Rührselige kippt, geeignet ist, ein Millionenpublikum zu begeistern.

Veröffentlicht am: 27. Dezember 2018

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Ergebnis: 3,5 Mio. Besucher (Quelle: iboe; Stand: 15. April 2019)