Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


ANGÉLIQUE

Buch: Philippe Blasband; Regie: Ariel Zeïtoun

Figur und Fassade

Was haben der Weltraumroboter Wall·E und Kommissar Rex, Frankenstein und der sprechende Sportwagen K.I.T.T. oder Hellboy und die Schildkröte Kassiopeia gemeinsam? So verschieden sie auch sein mögen: Als Filmfiguren wetteifern sie alle um die Anteilnahme des Publikums an ihren Geschichten. Wie der Figurenforscher Jens Eder in einem aufschlussreichen Aufsatz gezeigt hat, mag die identifikatorische Nähe der Zuschauer zu Filmcharakteren je nach ihrer Erscheinungsweise und Anlage unterschiedlich ausfallen. Allerdings ist eine wie auch immer geartete Form der Anteilnahme am Schicksal der Figuren zumindest im Mainstream-Film unerlässlich, um das Publikum über die gesamte Spielfilmlänge bei der Stange zu halten. Mit dem Remake des Historienschinkens ANGÉLIQUE läuft nun ein Film in den Kinos, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, im Vergleich zur Schmonzetten-Verfilmung aus den 1960er Jahren ein komplexeres Profil seiner Hauptfigur vorzulegen. Damit lädt der Film geradezu dazu ein, sich Gedanken darüber zu machen, was die Vielschichtigkeit einer Filmfigur ausmacht. Und wie es ihr gelingt, die Sympathie der Zuschauer zu erwerben.

In den 1960er Jahren wurde Anne Golons historische Romanserie ANGÉLIQUE über das Lieben und Leiden einer fiktiven, französischen Adeligen aus dem 17. Jahrhundert bereits schon einmal verfilmt. Nach 150 Millionen verkauften Buchexemplaren erschien eine Leinwandadaption geradezu unausweichlich. Allerdings wurde die in der Romanvorlage emanzipierter und psychologisch komplexer angelegte Protagonistin in der Verfilmung zu einer erotischen Verführerin mit dem französischen Sexsymbol Michèle Mercier in der Hauptrolle verflacht. Auch die Buchautorin Anne Golon war unzufrieden mit der filmischen Aneignung ihrer Figur und sperrte sich lange gegen eine Neuadaption. Erst Regisseur Ariel Zeïtoun, der in Filmen wie BANDIDAS und COLOMBIANA bereits seine Vorliebe für resolute Racheengel bewiesen hatte, konnte Golon von einer Neuverfilmung des beliebten Stoffes überzeugen. Allerdings ist auch dem Remake keine wesentlich plastischere Protagonistin gelungen. Lediglich zu Beginn erregt die hübsch anzusehende Hauptfigur die Aufmerksamkeit der Zuschauer, um dann von einem heillos überladenen Plot zusehends ins Hintertreffen zu geraten.

Die Protagonisten von Mainstream-Filmen werden in der Regel von einem äußeren Ziel ('want') angetrieben. Diesem steht sowohl ein wahres inneres Bedürfnis ('need') als auch eine grundlegende charakterliche Schwäche ('flaw') entgegen. Das äußere Ziel wird hier klar ausformuliert: Zunächst will ANGÉLIQUE (Nora Arnezeder) ihre erzwungene Verheiratung mit dem älteren, unansehnlichen Grafen JOFFREY DE PEYRAC (Gérard Lanvin) verhindern. Als dies misslingt und Angélique mit dem Grafen wider Erwarten eine glückliche Ehe führt, ändert sich ihr Ziel. Im zweiten Teil des Films versucht Angélique die unrechtmäßige Verurteilung ihres Ehemannes durch Sonnenkönig LOUIS XIV. (David Kross) zu verhindern. Angéliques anfänglichem Ziel, das heißt ihrem gescheiterten Versuch, der unliebsamen Heirat zu entgehen, steht denn auch ein wahres inneres Bedürfnis bzw. eine grundlegende charakterliche Schwäche entgegen: Erst nach und nach gesteht sich die naive und vorurteilsbehaftete Angélique ein, dass der freigeistige, selbstironische und charmante Graf trotz seiner abstoßenden Fassade genau der Mann ist, der sie glücklich macht. Hier findet also eine der für das Mainstream-Kino typischen charakterlichen Veränderungen der Hauptfigur statt, an der die Zuschauer Anteil nehmen können.

Im weiteren Verlauf und damit über den Großteil der Handlung bleibt Angélique jedoch statisch. Im zweiten Teil des Films wandelt sich die Figur nicht mehr, das heißt ein weiterer Konflikt zwischen ihren äußeren Zielen und ihren inneren Bedürfnissen bleibt aus. Auch weist Angélique keine charakterlichen Defizite und damit auch keine Ecken und Kanten mehr auf, die zur Identifikation einladen würden. In ihrem makellos mutigen Heroismus bleibt die Figur unnahbar. In Folge dessen verschiebt sich im zweiten Teil des Films der Fokus von der wenig dynamischen Figurenpsychologie auf den atemlos vorangetriebenen Abenteuerplot. Dieser verirrt sich jedoch zusehends in unübersichtliche Nebenhandlungen. Entsprechend bleibt Angélique auch in dieser Neuverfilmung eine zwar hübsch anzusehende, jedoch figurenpsychologisch flach angelegte Fassade. Echte Anteilnahme der Zuschauer am Schicksal der Hauptfigur wird damit erheblich erschwert.

Für die Erfolgsaussichten des Films ist zudem problematisch, dass er keine klare Zielgruppe anvisiert. Anders als in vergleichbaren Historienfilmen, wie Sofia Coppolas bezaubernd vielschichtigem Porträt der französischen Königin MARIE ANTOINETTE, wurde versäumt, den angestaubten Stoff zu modernisieren und für eine jüngere Zielgruppe zugänglich zu machen. MARIE ANTOINETTE gelingt es, durch die sensible Charakterisierung der zerrissenen Hauptfigur und das moderne Liebeskonzept ein zeitgenössisches Publikum für den historischen Stoff zu interessieren. Dagegen wirkt ANGÉLIQUE mit dem forsch vorangetriebenen Abenteuerplot wie ein Historienschinken, der für eine jugendliche Altersgruppe zu betulich und altbacken erzählt. Ein älteres Zielpublikum wird jedoch mit den eindimensionalen Figuren nicht viel anfangen können. Für eine reine Unterhaltungszielgruppe wird zu viel geschichtliches Wissen vorausgesetzt. Die Kenntnis einiger historischer Persönlichkeiten der französischen Königszeit ist zwar nicht zwingend notwendig zum Verständnis der Haupthandlung, wohl aber der jeweils nur kurz angerissenen Nebencharaktere. Damit richtet sich der Film lediglich an ein historien- bzw. abenteuerfilminteressiertes Spartenpublikum und wäre mit seiner konfliktreichen, breit angelegten Dramaturgie als TV-Mehrteiler besser geeignet. Hier könnte er im Fahrwasser vergleichbarer Produktionen wie DIE WANDERHURE und DIE HEBAMME ein breites Publikum ansprechen. Im Kino werden die Besucherzahlen jedoch nicht einmal den fünfstelligen Bereich erreichen.

Veröffentlicht am: 16. Juni 2014

Prognose: Besucherzahlen unterhalb des fünfstelligen Bereichs

Ergebnis: Stand 9. Oktober 2014: 5.000 Besucher (Quelle: EDI)