Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


HIRNGESPINSTER

Buch und Regie: Christian Bach

Was ist ein Schauspielerfilm?

"Schauspielerfilm" ist ein Begriff, der inzwischen inflationär verwendet wird. Dabei wird jedoch nur selten ausgeführt, was darunter zu verstehen ist. Selbstverständlich wird kein Film ohne Figuren bzw. Schauspieler auskommen. Doch was genau ist damit gemeint, dass ein so genannter "Schauspielerfilm" den Fokus auf die Schauspieler legt? Dass berühmte Stars mitspielen? Dass einem bestimmten Schauspieler eine Rolle auf den Leib geschrieben wurde? Dass figurenorientiert erzählt wird? Nachwuchsregisseur Christian Bach hat mit HIRNGESPINSTER einen Schauspielerfilm im besten Sinne gemacht, der geradezu dazu einlädt, sich über diesen Begriff Gedanken zu machen.

Zunächst einmal ist der Schauspielerfilm ein Antipode zum so genannten "Autorenfilm". Genauso wenig wie Schauspieler sind natürlich auch Autoren und Regisseure aus keinem Film wegzudenken. Allerdings wird der Autor im Autorenfilm zur alles dominierenden Größe: Schauspiel, Dramaturgie, filmische Ästhetik, etc. ordnen sich dem Stil bzw. der künstlerischen Vision des auteur unter, der allen Komponenten des Films seine spezifische Handschrift verleiht. Diese autorenzentrierte Schaffensweise wurde wahlweise als künstlerischer Befreiungsschlag gefeiert oder als totalitäre Tendenz verdammt, wie Filmwissenschaftlerin Annette Brauerhoch ausführt.

Im Schauspielerfilm tritt der Autor jedoch hinter Figur und Geschichte zurück und überlässt ihnen die Bühne. Damit öffnet sich Raum für Improvisation und authentisches Schauspiel. Es war eine richtige und mutige Entscheidung von Autor/Regisseur Christian Bach sein Spielfilmdebüt HIRNGESPINSTER als Schauspielerfilm in diesem Sinne zu konzipieren. Denn gerade Nachwuchsfilmemacher versuchen sich allzu häufig auf Kosten ihrer Figuren und Geschichten als Autorenfilmer zu profilieren. Und drohen damit authentisches Schauspiel zu ersticken, da aus jeder Geste und jeder Dialogzeile die alles übertönende Stimme des Autor/Regisseurs herauszuhören ist.

HIRNGESPINSTER lebt dagegen von dem inneren Spannungsgefüge seiner Figuren. Der einfühlsame SIMON (Jonas Nay) muss sich aus dem Schatten seines an paranoider Schizophrenie erkrankten Vaters HANS (Tobias Moretti) befreien. Zum Schauspielerfilm wird HIRNGESPINSTER aber nicht in erster Linie wegen seiner durchaus beeindruckenden Besetzung. Sondern dadurch, dass das Skript den Figuren immer wieder Raum gibt, in ihrer vielschichtig und kontrastreich angelegten Persönlichkeit aufeinander zu treffen, anstatt atemlos nur die Handlung voranzutreiben. Mittels kleiner Gesten wird die Geschichte eines Sohnes erzählt, der erst die übermächtige Verantwortung für seinen kranken Vater abstreifen muss, um endlich Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen zu können.

Trotz seiner figurenorientierten Erzählweise fährt der Film einiges an dramatischem Konfliktpotenzial auf: Vater Hans demoliert im Verfolgungswahn eine Satellitenschüssel, bedroht die Monteure mit einer Axt, wird von der Polizei verhaftet und verwickelt seinen Sohn in einen schweren Verkehrsunfall. Handlungsstrukturell ist dabei gelungen, wie sich die Wahnvorstellungen von Vater Hans immer auswegloser und erdrückender steigern. Nimmt man noch mit Humor, wie Hans in einer Nacht- und Nebelaktion die Satellitenschüssel der spießigen Nachbarn abmontiert, wird er gegen Ende mehr und mehr zu einer unberechenbaren Bedrohung für sich und andere. Trotz dieser durchaus wirkungsvollen dramatischen Szenen ist der Film jedoch genau dann am stärksten, wenn sich die Inszenierung darauf beschränkt, die inneren Konflikte der Figuren auszuloten.

Die sind nämlich für sich genommen so spannend, dass man gerne (noch) mehr über sie erfahren hätte. Insbesondere wünscht man sich tieferen Einblick in das komplexe Seelenleben des schizophreniekranken Hans. Der wird von Tobias Moretti so genial, leidenschaftlich und glaubwürdig verkörpert, dass er die eigentliche Hauptfigur, den sensiblen Simon, etwas an die Wand spielt. In gewisser Weise wiederholt hier der Film auf formaler Ebene, wovon er inhaltlich erzählt: Simon droht von einer übermächtigen Vaterfigur erdrückt zu werden. Dieses Defizit liegt jedoch weniger an dem nicht minder beeindruckenden Schauspiel von Jonas Nay, sondern eher an der Anlage von Simons Figur. Deren Konflikt zwischen Familie und Freundin, zwischen Verantwortung für den kranken Vater und eigenen Lebensträumen hätte noch stärker herausgearbeitet werden müssen, um die Figur schärfer zu konturieren. Insbesondere Simons eigene beruflichen Ambitionen, seine Leidenschaft für Architektur, bleiben zu sehr im Hintergrund.

Diese kleineren Schwächen können jedoch das größte Verdienst des Films nicht schmälern: Dass es ihm gelungen ist, in einer Zeit, in der Filme über psychisch Kranke Hochkonjunktur haben, ein weitgehend klischeefreies und in vielen Szenen sogar witziges Porträt eines Schizophrenen abzuliefern, das an keiner Stelle in einen Betroffenheitston verfällt. Im Gegenteil wirbt der Film durch die sympathisch und charismatisch gezeichnete Figur des Hans um Verständnis für und echte Auseinandersetzung mit den Problemen psychisch Kranker und ihren Angehörigen. Allerdings wird der leise Film, der eher auf kleine Gesten denn starke Pointen setzt, nicht die großen Massen in die Kinos locken. Insofern ist mehr als ein kleiner, vierstelliger Achtungserfolg nicht zu erwarten.

Veröffentlicht am 9. Oktober 2014

Prognose: kleiner, vierstelliger Achtungserfolg

Ergebnis: 6.000 Besucher (Quelle: EDI) Stand 24. Januar 2015