Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


GREEN BOOK

Buch: Peter Farrelly, Brian Currie, Nick Vallelonga nach einer realen Begebenheit; Regie: Peter Farrelly

Klasse statt Rasse ─ Vom Umgang mit Figurenklischees

New York City in den frühen 1960er Jahren: Der schnellzüngige, italoamerikanische Rausschmeißer TONY "LIP" VALLELONGA (Viggo Mortensen) ist eine Institution im Kult-Nachtclub Copacabana. Weder von betrunkenen Barschlägern noch von dem skrupellosen Mafia-Boss GIO LOSCUDO (Joe Cortese) lässt Tony sich einschüchtern. Doch als der Club wegen Renovierungsarbeiten schließen muss, weiß Tony nicht, wie er weiterhin seine geliebte Frau DOLORES (Linda Cardellini) und die beiden Söhne über Wasser halten soll. Denn nach anfänglichen, gewitzten Ideen, an Geld zu kommen ─ Tony lässt sich von Loscudo Finderlohn für einen Hut bezahlen, den Tony zuvor selbst geklaut hat oder fordert das dümmliche Großmaul FAT PAULIE (Johnny Williams) zu einem Esswettbewerb heraus ─, ist Tony rasch pleite und muss sogar seine geliebte Armbanduhr im Pfandleihhaus versetzen, um seine Familie noch ernähren zu können.

Umso erleichterter ist Tony, als ihm ein Job angeboten wird: Ein bekannter Pianist sucht einen Fahrer für seine Tournee. Allerdings muss Tony überrascht feststellen, dass es sich bei dem Pianisten, DR. DONALD SHIRLEY (Mahershala Ali), um einen Afroamerikaner handelt, der noch dazu in keines der gängigen Klischees passen will: Don spricht lupenreines Englisch und fließend mehrere Fremdsprachen, hat drei Studienabschlüsse, ist vielseitig gebildet und interessiert an Literatur und Kunst und hat eine eigene, innovative Jazzform kreiert. Tony zögert zunächst, den Job bei dem kuriosen Musiker anzunehmen, lässt sich dann jedoch mit einer üppigen Bezahlung ködern, Don bei seiner Tournee durch den amerikanischen Süden zu begleiten. Tony erhält eine großzügige Anzahlung von Dons Musik-Produzenten, der jedoch unmissverständlich klarstellt, dass Tony die übrige Bezahlung nur bekommen wird, wenn er Don aus allen Schwierigkeiten heraushält.

Damit sind nicht nur die Spielregeln des Films, sondern auch die den beiden Hauptfiguren jeweils zugewiesenen Rollen abgesteckt: Der Afroamerikaner Don Shirley ist ein gebildeter Feingeist, dem aufgrund rassistischer Vorurteile indes der Zugang zu den oberen Gesellschaftsschichten verwehrt bleibt. Und der proletenhafte Rausschmeißer Tony Lip ist sein "weißer Retter", der ihn aus brenzligen Situationen in den segregierten, rassistischen Südstaaten, im wortwörtlichen Sinne, herausschlägt.

Vordergründig verzichtet der Film damit auf eingefahrene Klischees ─ allerdings nur, dass sie sich durch die Hintertür wieder einschleichen. Denn der Humor der Geschichte ergibt sich nicht nur aus dem spannungs- und konfliktreichen Culture Clash der beiden konträr angelegten Protagonisten. Sondern eben auch daraus, dass hier gängige kulturelle Stereotype in ihr Gegenteil verkehrt werden: Nicht ein Schwarzer chauffiert einen wohlhabenden Weißen durch das Segregations-Amerika der 1960er Jahre, sondern gerade anders herum. Während der Weiße als armer, ungebildeter und grobschlächtiger Prolet gezeichnet ist, hat es der Schwarze zu großem Reichtum gebracht, verkehrt in den höchsten Gesellschaftskreisen, hat mehrere Studienabschlüsse erworben und interessiert sich für feingeistige Unterhaltung, Kunst, Musik und Literatur.

Allerdings verzichtet der Film leider darauf, den schwarzen Musiker folgerichtig auch zu seiner Hauptfigur zu machen. Denn die ist klar der weiße Chauffeur Tony Lip, in dessen familiäres und soziales Umfeld der Film aufwändig einführt. Und anstatt Tonys Rassismus vorzuführen, lässt der Film Tony zu Shirleys "weißem Retter" avancieren, der den schwarzen Mann mehr als einmal aus prekären Situationen befreit. Damit liegt der Fokus hier, trotz aller Versuche gängige Figuren- und Gesellschaftsstereotypen umzudrehen, noch immer bei der weißen Hauptfigur. Entsprechend hat Don Shirleys Tochter dem Film auch vorgeworfen, er sei eines weißen Mannes Version vom Leben eines schwarzen Mannes.

Wie die Filmwissenschaftlerin Michaela Krützen in ihrem unterhaltsam geschriebenen Buch Väter, Engel, Kannibalen zeigt, operiert das Hollywoodkino seit jeher mit einem überschaubaren Repertoire an Figurenstereotypen, mit denen jeweils bestimmte Eigenschaften verknüpft sind. Allerdings liegt der Reiz gerade in der Umkehrung oder Neuakzentuierung solch festgefügter Charakterprofile, die in GREEN BOOK zwar durchaus angelegt ist, aber konsequenter und mutiger weiter geführt werden könnte.

Dem Auswertungspotenzial bzw. den Chancen des Films, die eine oder andere seiner fünf Oscar-Nominierungen tatsächlich auch einzuheimsen, wird diese im letzten doch wieder klischeehafte Figurencharakteristik indes keinen Abbruch tun. Im Gegenteil. Denn ähnlich wie in der Erfolgsreihe MONSIEUR CLAUDE UND SEINE TÖCHTER, die vor kruden kulturellen Klischees nur so strotzt, dienen solche Versöhnungsgeschichten zwischen Schwarzen und Weißen der weißen
Selbstvergewisserung, dass immerhin, selbst im Segregations-Amerika, nicht alle Weißen Rassisten geblieben sind und Vorurteile im gegenseitigen Kennenlernen ja auch überwunden werden können.

Punkten kann der Film auch mit Don Shirleys wahrhaft berührendem, rassistische Vorurteile überbrückendem Klavier- und mit dem meisterlichen Schauspiel beider Protagonisten. Während Mahershala Ali in der Rolle des feingeistigen Ausnahmepianisten wieder eine ähnlich nuancierte Figur wie schon im Oscar-Hit MOONLIGHT verkörpert, die sich gängigen Klischees widersetzt, ist der ansonsten in eher kontemplativen Rollen zu sehende, dänisch-U.S.-amerikanische Viggo Mortensen als ungehobelter, italoamerikanischer Rausschmeißer hier gegen den Strich besetzt. Da nichtsdestotrotz beide Schauspieler gleichermaßen in ihren Rollen brillieren, ist auch für beide der Oscar für den besten Haupt- bzw. den besten Nebendarsteller zu erwarten.

Entsprechend ist der Geschichte eines ungleichen Duos, die von der Grundkonstellation her als Umkehrung des Überraschungs-Superhits ZIEMLICH BESTE FREUNDE zu verstehen ist, zwar ein gutes, aber nicht diesem Vorläufer vergleichbares Auswertungspotenzial zuzutrauen. Denn ZIEMLICH BESTE FREUNDE ist mit einer Autojagd durch das nächtliche Paris, einem Paragliding-Sprung und einem Flug im Privatjet visuell deutlich spektakulärer und abwechslungsreicher inszeniert als GREEN BOOK, dessen Handlungsverläufe sich hauptsächlich in Innenräumen und im engen Passagierraum eines PKW abspielen. Auch erzählt ZIEMLICH BESTE FREUNDE ungleich emotionaler, da der lebenslustige Vorstadtganove Driss dem gelähmten Millionär Philippe durch seinen Witz, Charme und verrückte Ideen auf inspirierende Weise zu neuer Lebensfreude verhilft. Diese Ebene ist in GREEN BOOK zwar grundsätzlich angelegt, beispielsweise als Tony Don zu seinem ersten Brathähnchen überredet, wird hier jedoch deutlich verhaltener ausgespielt. Entsprechend ist für GREEN BOOK nur ein knappes Zehntel des herausragenden Besuchererfolges von ZIEMLICH BESTE FREUNDE zu erwarten.

Veröffentlicht am: 2. Februar 2019

Prognose: >> 750.000 Besucher und Oscar für den besten Haupt- und Nebendarsteller

Ergebnis: 1,3 Mio. Besucher (Quelle: iboe; Stand: 15. April 2019) und Oscar für den besten Film, das beste Originaldrehbuch und den besten Nebendarsteller