Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


THE IMITATION GAME

Buch: Graham Moore; Regie: Morten Tyldum

Jenseits des biographischen Korsetts – Variationen des Biopics

Das Genre Biopic erfreut sich anhaltender Beliebtheit. Die Zuschauer können ihre eigenen Biographien in den Lebensläufen historischer Persönlichkeiten spiegeln und durch die dramaturgische Zuspitzung als sinnhaft und geordnet erfahren. Die Schauspieler stehen durch die oft schwierige Aneignung der Sprech- und Bewegungsweise geschichtlich verbürgter Persönlichkeiten vor echten Herausforderungen, die nicht selten mit einem Oscar oder einer Goldenen Palme prämiert werden. Die Regisseure und Drehbuchautoren können bei ihren Recherchen auf detaillierte Biographien und reichhaltiges Archivmaterial zurückgreifen. Die Kostüm- und Bühnenbildner erhalten die Möglichkeit, die visuelle Opulenz vergangener Epochen wiederaufleben zu lassen. Und die Produzenten können viel Geld verdienen, da sich all diese Vorzüge an der Kinokasse oftmals auszahlen.

So ist es kein Wunder, dass Biopics in Serie produziert werden. Bei den vorjährigen Filmfestspielen in Cannes dominierten Filmbiographien vom Eröffnungsbeitrag GRACE OF MONACO bis zu den Wettbewerbsfilmen FOXCATCHER, MR. TURNER und SAINT LAURENT das Programm. Auch bei den kürzlich bekannt gegebenen Oscarnominierungen sind in der Königskategorie „Bester Film“ mit AMERICAN SNIPER, THE THEORY OF EVERYTHING, THE IMITATION GAME und SELMA gleich vier Filmbiographien vertreten. Damit besteht immerhin eine 50-prozentige Chance, dass erneut ein Biopic die begehrte Trophäe gewinnt. Der Siegeszug der Filmbiographie hat jedoch auch seine Schattenseiten, sodass der türkisch-amerikanische Kritiker und Filmemacher Bilge Ebiri erste Ermüdungserscheinungen des Genres beklagt.

Entsprechend gab es schon verschiedentlich Bestrebungen, die standarisierten Erzählmuster der Filmbiographie zu erneuern. Schon aus dramaturgischer Notwendigkeit wurde das Biopic mit anderen Genres wie dem Musik- (WALK THE LINE) oder dem Abenteuerfilm (LAWRENCE OF ARABIA) verknüpft. Das Leben bislang wenig bekannter Persönlichkeiten (BIG EYES) oder wenig bekannte Aspekte aus dem Leben bekannter Persönlichkeiten (MY WEEK WITH MARILYN) wurden verfilmt. Und in jüngster Zeit wurde zusehends versucht, sich statt eines biographischen Durchmarschs auf den prägnanten Höhepunkt einer Lebensgeschichte zu konzentrieren (THE KING'S SPEECH). Die meisten dieser Genre-Erneuerungsversuche zielen also darauf, dem drögen biographischen Korsett zu entkommen und das Leben historischer Persönlichkeiten in eine dynamische Spielfilmhandlung zu überführen.

Einen besonders gelungenen Versuch, der Linearität einer Lebensgeschichte zu entkommen, stellt Morten Tyldums Filmbiographie über den britischen Mathematiker und Kryptoanalytiker Alan Turing, THE IMITATION GAME, vor. Das Skript, das Graham Moore auf Basis von Andrew Hodges' Biographie „Alan Turing – The Enigma“ verfasst hat, präsentiert Turings Lebensgeschichte auf verschiedenen Zeit- und Erzählebenen. Alternierend wird Turings Kindheit in einem Jungeninternat, seine Arbeit für den MI-6 im II. Weltkrieg und seine Verhaftung wegen homosexueller Handlungen zu Beginn der 1950er Jahre erzählt. Der stete Wechsel zwischen den Zeitebenen wird geschickt genutzt, Spannungsbögen aufzubauen oder falsche Fährten zu legen.

Neben den alternierenden Zeitebenen werden zudem unterschiedliche Erzählebenen aufgemacht. Die Frage, die den Pionier der Computer- und künstlichen Intelligenzforschung Alan Turing zeit seines Lebens beschäftigt hat: 'Können Maschinen menschliche Intelligenz und Bewusstsein simulieren?', wird in einem interessanten Erzählexperiment auch auf den Zuschauer übertragen. Als voice-over-Erzähler fordert Turing das Publikum auf, wie in seinem bekannten "Imitation Game"-Experiment, nach dem das Skript benannt wurde, Turings Lebensgeschichte und seine Handlungen zu bewerten: Handelt Turing, der von seinen Zeitgenossen als gefühlloses Monster bezeichnet wurde, wie ein Mensch oder wie eine Maschine? Gelingt es dem arroganten und eigenbrödlerischen Professor wenigstens Menschlichkeit und Anteilnahme zu simulieren, um von seinem Umfeld nicht wie eine seiner Maschinen, sondern als Mensch wahrgenommen zu werden? Genau wie Turing im Film soll auch der Zuschauer der Frage nachgehen, wann künstliche Intelligenz menschlicher gleichgestellt werden kann bzw. worin sich Mensch und Maschine wesenhaft unterscheiden.

Auch hinsichtlich des Genres funktioniert THE IMITATION GAME auf unterschiedlichen Ebenen. Zum einen wird das traditionell eher actionlastige Agenten- und Spionagegenre mit der psychologischen Figurentiefe eines Biopics verbunden. Das bewegte Leben und die komplexe Persönlichkeit von Alan Turing, dem es im II. Weltkrieg gelang, den als unentschlüsselbar geltenden Enigma-Code der Nazis zu knacken, bieten genügend Stoff für sowohl eine actionreiche Handlung als auch ein interessantes Figurenporträt, sodass es dem Film glückt, beide Möglichkeiten optimal auszuschöpfen.

Auch der Figurengestaltung gelingt ein schwieriger Balanceakt: Zum einen werden die historisch verbürgten schwierigen Charakterzüge von Alan Turing, etwa seine Arroganz, seine Radikalität oder seine mangelnde Sozialkompetenz, beibehalten. Zum anderen wird die Figur aber trotzdem erfolgreich als Sympathieträger etabliert, da sie sich als seit der Kindheit gehänselter und misshandelter Underdog gegen alle Widerstände behauptet und zum Schluss statt einer erniedrigenden, staatlichen Zwangsverordnung einen würdevollen Freitod wählt. Die Ambivalenzen der historischen Person Turing werden hier also nicht nur ausgehalten, sondern dramaturgisch gezielt genutzt, um den Zuschauer mit einer Mischung aus Faszination und Mitleid zu involvieren.

Insgesamt liegt damit ein Erfolgsrezept vor, mit dem THE IMITATION GAME an der Kinokasse punkten und, nicht zuletzt auch durch die Strahlkraft seines beeindruckendes Casts und die acht Oscar-Nominierungen, die 500.000-Besucher-Marke knacken wird.

Veröffentlicht am: 25. Januar 2015

Prognose: > 500.000 Besucher

Ergebnis: 650.000 Besucher (Quelle: iboe) Stand: 26. November 2016