Nobody knows anything - William Goldman

In dieser Rubrik beobachte ich den gegenwärtigen Kinomarkt und bewerte unter wechselnden dramaturgischen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten aktueller Filmstarts.


THE LOST KING

Buch: Steve Coogan, Jeff Pope nach einer realen Begebenheit;
Regie: Stephen Frears

Geschichten vs. Geschichte - zur emotionalen Schlagkraft des Erzählens

Die britische Callcenter-Angestellte Philippa Langley fühlt sich mit Mitte Vierzig auf dem Abstellgleis des Lebens. Ihr chronisches Müdigkeitssyndrom macht ihr schwer zu schaffen. Bei einer dicken Beförderung wird sie zugunsten einer jüngeren Kollegin übergangen. Ihre beiden mitten in der Pubertät steckenden Söhne zieht sie nach der Trennung von ihrem Ex-Mann alleine auf. Und ein neuer Partner ist auch nicht in Sicht.

Bei einer Theateraufführung von Shakespeares "Richard III." empfindet Philippa eine innige Verbindung zu dem Protagonisten, der als buckliger und brutaler Thronräuber verschrien ist. Denn wie der arme König fühlt sich Philippa von ihrem Umfeld missverstanden und marginalisiert. Als ihr in einer Tagtraum-Vision Richard III. höchstpersönlich erscheint, beginnt Philippa ihr bisheriges Leben über den Haufen zu werfen, um das Bild des Königs in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren.

Dazu schließt sich Philippa der "Richard-III.-Gesellschaft" an, einer bunten Truppe verschrobener Hobby-Historiker, die das negative Image des Monarchen aufpolieren wollen. Dort erfährt Philippa, dass der König nach seinem Heldentod auf dem Schlachtfeld nicht einmal ein würdiges Begräbnis erhalten hat. Vielmehr gilt sein Leichnam bis heute als verschollen. Philippa beschließt, die sterblichen Überreste von Richard III. aufzuspüren, um den König in einem Staatsbegräbnis standesgemäß zu beerdigen.

Die kurios anmutende Geschichte von THE LOST KING basiert auf der wahren Begebenheit einer leidenschaftlichen Hobby-Historikerin, der es 2012 beinahe im Alleingang gelungen ist, den über 500 Jahre verschollenen Leichnam des englischen Königs Richard III. aufzustöbern und ausgraben zu lassen.

Tagesaktuelle Brisanz ergibt sich für das geschichtlich ausgerichtete Projekt daraus, dass die Hobby-Historikerin neben dem Leichnam des Königs auch eine skrupellose Schmierkampagne aufdeckt, der der König zum Opfer gefallen ist. Und die der gegenwärtigen Debatte über "alternative Fakten" und "Fake News" ein spannendes, historisches Beispiel hinzufügt. Denn bei ihren umfangreichen Recherchen findet Philippa heraus, dass der König nach seinem Tod gezielt diffamiert wurde, um der auf sein Regiment folgenden Tudor-Dynastie den Herrschaftsanspruch zu sichern.

Geschichte erscheint hier demnach als ein Konglomerat aus miteinander konkurrierenden Geschichten, bei denen sich jeweils nicht die wahrhaftigste, sondern die wirkmächtigste durchsetzt. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch Albert Heisers denkwürdige Studie "Das Drehbuch zum Drehbuch" über Erzählstrategien im Werbespot:

"Der Rezipient macht seine Erfahrung aufgrund seiner sinnlichen Anteilnahme. Daraus leitet sich die Beweiskraft der Geschichte ab…Erzählen ist eine Strategie der Beeinflussung und die Erzählung ein nicht-rationaler Überzeugungsversuch, der Schlussfolgerungen nahe legt. Die Erzählung schafft es, einen Rezipienten davon zu überzeugen, dass eine Sache so sein müsste, wie sie dargestellt wurde".

Entsprechend setzt sich in Geschichtsschreibung wie Erzähltradition oftmals nicht die vom historischen Standpunkt aus betrachtet wahrste, sondern die emotional schlagkräftigste Story-Version durch.

Im Licht dieser Überlegungen erscheint auch ein Q&A mit dem Regisseur des Films, Altmeister Stephen Frears, auf dem diesjährigen Münchner Filmfest aufschlussreich. Denn dort antwortete Frears auf die Frage, was ihn an dem Stoff fasziniert habe, THE LOST KING sei eine Geschichte, die die Zuschauer mögen werden.

Ein Publikumsliebling zu sein, scheint nicht ganz unwichtig, wenn man bedenkt, dass Frears in dieser Geschichte mit keinem geringeren als Dichterfürst William Shakespeare um die Deutungshoheit über Richard III. konkurriert. Denn in seinem gleichnamigen Königsdrama porträtiert Shakespeare Richard III. als skrupellosen Thronräuber und nicht, wie Frears, als besonnenen, rechtmäßigen Monarchen, der von seinem Umfeld absichtlich und mit Kalkül desavouiert wurde.

Damit entlarvt THE LOST KING emotionale Schlag-, Wirkungs- und Überzeugungskraft als die eigentliche Funktion des Erzählens, sodass dieser Stoff über einen 500 Jahre verschollenen Königsleichnam im derzeit wütenden Kampf um Fakt vs. Fake unerwartet wieder tagesaktuelle Relevanz erfährt. Auch kann man Frears' Versicherung nur zustimmen, der Film sei ein Publikumsliebling. Zumal er sich nicht nur auf das herausragende Schauspiel von Sally Hawkins in der Hauptrolle der liebenswert schrulligen Hobby-Archäologin verlässt. Sondern mit der Erzählprämisse einer verschrobenen Heldin, die unbeirrt ihren steinigen Weg geht, auch auf einem vergleichbaren Erfolgsrezept aufbaut, wie der Vorgänger des Erfolgstrios aus Frears/Coogan/Pope PHILOMENA, mit dem 2014 ein echter Überraschungshit geglückt ist.

Allerdings wurde das Marktpotenzial von PHILOMENA zusätzlich von dem extrem emotionalisierenden Thema einerseits, eine Mutter sucht ihren zur Zwangsadoption freigegebenen Sohn, und andererseits von dem sehr populären Odd-Couple-Sujet mit Coogan als mürrisch-elitärem Journalist und Judi Dench als sympathisch-naiver Jederfrau begünstigt, sodass sich der herausragende Erfolg dieses Vorläufers hier nicht direkt wiederholen wird. Daher werden die Kinobesucherzahlen nur gut
die Hälfte des populären Vorläufers betragen.

Veröffentlicht am: 3. August 2023